
Sachsen-Kultour
Leipzig ist mal wieder mächtig angesagt. Die sächsische Metropole gilt als eine Art Berlin-light, noch mit kompakter Übersichtlichkeit, heimeliger Kneipenkultur und viel Aufbruchstimmung gesegnet. Richtiggehend bewundert wird die Stadt inzwischen um eine Kultureinrichtung, die heutzutage alle Kommunen von weltbürgerlichem Format gerne ihren Gästen präsentieren würden. Sie heißt kurz und knapp SPINNEREI, womit schon fast alles gesagt wäre
Dieser imposante Bahnhof hat wirklich Weltklasseformat. 100 Jahre wird er 2015 alt, oder besser gesagt jung, denn er ist es, der nach wie vor das Hauptportal für eintrudelnde Gäste prägt. Gleich gegenüber fressen die bundesweit einheitlichen Investoren-Kästen den historischen Charme mit kalt lächelnden Glasfassaden auf. Die Spur des Geldes verrichtet auch hier ihre normative Kraft der Vereinheitlichung unter den Fahnen der üblichen Markenketten.

Hauptdurchgangsstraße auf dem 10 Hektar großen Gelände. Einstmals mit eigenem Gleisanschluss, heute bevorzugt mit dem Velo frequentiert

Solider Backsteinbau. Weitesgehend noch im Urzustand erhalten. Inzwischen auch zur Ready Made-Kunst aufpatiniert
Höchst wahrscheinlich würde unser anvisiertes Ziel heute auch ganz anders aussehen, hätten in den frühen neunziger Jahren die mit Argusaugen die Szene auslotenden Investoren nicht die Köpfe geschüttelt. Dann würde der Besucher jetzt statt auf Künstlerateliers und morbiden Industrieanlagen-Charme womöglich an einem Wachhäuschen abprallen. Dahinter würde sich dann luxuriöses Loftwohnen vor neugierigen Blicken verstecken. Angesagte Behausungen für die üblichen polyglotten Wohnraumsammler, die ansonsten noch gerne in London, Zürich, New York und natürlich in Berlin zukaufen.
So aber wird in der ehemaligen Baumwollspinnerei auch heute noch weiter gesponnen. Mit Farbe und Leinwand, mit Keramik oder mit Video-Installationen. Ein Geheimtipp ist der Ort allerdings schon lange nicht mehr. Große Galerien haben hier ihre Niederlassungen installiert, und in den riesigen Backsteingebäuden hat der lokale Malerfürst Neo Rauch sein Atelier, was der ganzen Anlage schon fast so etwas wie eine weihevoll-überirdische Magie einhaucht und den Begriff „Neue Leipziger Schule“ zur geldwerten Marke hat werden lassen.

Ein rotes Boot namens Sisy in Halle 14. Vom Künstler-Duo Thomas Huber und Wolfgang Aichner. Das Objekt wurde wochenlang über die Alpen bugsiert, um es in Venedig absaufen zu lassen. Sisyphus modern
Bis kurz nach der Wende ratterten hier tausende Spinnmaschinen. An die 4000 Menschen waren in den dickwandig und damit dauerhaft hochgezogenen Backsteingebäuden dereinst beschäftigt. Schon damals ein Bau, der unter energetisch optimalen Gesichtspunkten geplant wurde. Mit doppelt verglasten Fenstern, denn die Baumwollverarbeitung erforderte ebenso gleichbleibende wie relativ hohe Verarbeitungstemperaturen. Und das im Sommer wie im Winter.
In den Glanzzeiten war es der größte Spinnerei-Industriebetrieb in Kontinental-Europa. Auf Madagaskar betrieb man zu Zeiten der Deutsch-Ostafrika-Kolonialisierung eigene Baumwollplantagen. Die erwiesen sich aber als nicht sonderlich ertragreich und zudem schädlingsanfällig. So verzichtete 1890 Otto von Bismarck auf weitere Ansprüche in der Region und überließ den Britten das Feld. Als Gegenleistung erhielt das Deutsche Reich die kleine Insel Helgoland.
Nach der Wende konnte auf dem 10 Hektar großen Gelände nicht mehr zu auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Preisen produziert werden. Der Betrieb wurde abgewickelt, die Maschinen in alle Welt verkauft, zum großen Teil auch nach Bangladesch. Für kurze Zeit wurden noch technische Fasern für die Reifenherstellung produziert, dann gingen in der einstigen Fabrik-Vorzeigestadt mit eigener Energiegewinnung und eigener Gartensiedlung die sprichwörtlichen Lichter aus.
Die zunächst projektierte Umwidmung in hochwertigen Wohnraum scheiterte an den Nachwende-Entwicklungen. Leipzig erlebte wie viele Oststädte eine Fluchtbewegung gen Westen. Alles was man unter diesen Bedingungen gebrauchen könnte, war zusätzlicher Wohnraum. Damit die Gebäude nicht dem Verfall und vor allem der willkürlichen Demontage durch illegale Plünderer zum Opfer fielen, bot man die weitläufigen Hallen als Künstlerateliers für kleine Miete an. Ein Plan, der offensichtlich funktionierte.
Inzwischen finden sich auf dem Areal nicht nur Ateliers und Galerien, sondern auch ein großer Markt für Künstlerbedarf und – ganz modisch-kommerziell – ein so genanntes Call Center. An Wochenenden im Januar, Mai und September lädt die Spinnerei zu Rundgängen ein. Das lockt jedes Mal zehntausende Kunstinteressierte an. Die kommen inzwischen auch aus Übersee und genießen die wohl weltweit einmalige Atmosphäre auf dem weitläufigen Gelände.
Platz- und Ausbaureserven sind noch reichlich vorhanden, bis dato werden nur etwa die Hälfte der Flächen genutzt. Angesichts der Entwicklung von Leipzig stehen die Chancen also gut, dass hier doch noch zur Freude der Investoren teurer Loft-Wohnraum entstehen wird. Hoffen wir, dass dann wenigsten kein Wachhäuschen den Besuchern den zwanglos-entspannten Zutritt verwehrt. Sonst wäre Leipzig doch wieder ein Stück „uncooler“.
Klassik Lust-Profil
Wer die Leipziger Spinnerei besuchen möchte, sollte sich in eine der unter dem Namen „Meisterzimmer“ angebotenen Atelierwohnungen einmieten. Die Nachfrage ist allerdings derart groß, dass mit langen Vorlaufzeiten zu rechnen ist. Informationen unter www.meisterzimmer.de. Informationen zur Spinnerei und zu den Veranstaltungen und Ausstellungen unter www.spinnerei.de.

Meisterwohnung in der Spinnerei Leipzig. Inspirierende Mischung aus Künstleratelier und Studentenbude. Intensiviert den Aufenthalt ungemein, frühzeitige Buchung empfohlen
Text und Fotos: Jo Soppa